Der Junge Masala-kulangwa und das Ungeheuer Shing'weng'we
(aus dem Roman „Im Reich Ngassas“ von A. Wallis Lloyd, © 2008 Dieter Frieß Verlag)
Hinweise des Autors: Dieses sinnreiche Sukuma-Märchen, das ich zum ersten Mal in Bujora/Tansania hörte, wird in verschiedenen Formen in Ostafrika weitererzählt.
Kalagu! Kize! (Kinder! Hört zu!)
Es war einmal ein Dorf tief im Sukumaland. Das Dorf wurde von einem Ältesten, einem großen Helden, der schon viele Heldentaten begangen hatte, in Frieden und Wohlstand regiert. In der Nähe des Dorfes lag ein Teich, und am Rande dieses Teiches wuchs ein kisabo – ein Kürbis. Er wuchs und wuchs, bis die Menschen nicht mehr glauben konnten, wie groß dieser kisabo schon gewachsen war! „Ist das wirklich ein kisabo?“, fragten sie einander, „oder steckt ein böser Zauber drin?“ Aber jedes Mal, wenn sie diese Frage stellten, kam eine Stimme von tief innen und echote: „Ist das wirklich ein kisabo? Oder steckt ein böser Zauber drin?“ Und die Menschen hatten furchtbare Angst!
Als der kisabo immer größer wurde, und die Stimme, die von innen kam, immer lauter, liefen die Menschen ins Dorf und holten ihre Waffen. Einer wollte den kisabo mit seinem Speer durchbohren, aber als der Speer ihn traf, platzte der kisabo mit einem Mal auf und ein entsetzliches Ungeheuer mit langen Krallen und spitzen Zähnen barst brüllend daraus hervor. Er griff den Dorfältesten, den Helden, der immer noch seinen Speer im Anschlag hielt, aus der Menge heraus und schluckte ihn hinunter! Dann fraß er jeden einzelnen Dorfbewohner auf: Männer, Frauen, Alte und Kinder! Dann fraß er das Vieh auf, und zertrampelte das Dorf, bis nichts mehr davon übrig war. Und das Monster hieß: Shing’weng’we.
Nur eine Frau war noch am Leben. Und das war die Frau des Dorfältesten. Als das Ungeheuer kam, stand sie noch tief im Busch und sammelte Brennholz. Sie war hochschwanger und konnte deswegen nicht so schnell laufen wie die anderen. Als sie sich noch auf dem Weg zum Dorf zurück befand, hörte sie schon von Ferne das Gebrüll des Ungeheuers und sah der Zerstörung ihres Dorfes zu. Sie rannte in den Wald zurück und versteckte sich in einer Höhle, in der das Ungeheuer sie nie hätte finden können. Und dort brachte sie ihren Sohn zur Welt und nannte ihn Masala-kulangwa. Das bedeutet: Der Junge mit den wunderbaren Ideen!
So lebten sie friedlich miteinander und jeder Tag war wie jeder andere. Eines Tages, als Masala-kulangwa schon ein großer Junge war, fragte er seine Mutter: „Warum habe ich keinen Vater und warum leben wir ganz allein in einer Höhle?“ Und sie erzählte ihm von dem alten Dorf und von seinem Vater, der ein großer Krieger gewesen war. Und dann erzählte sie ihm vom Ungeheuer Shing’weng’we, das alle Menschen im Dorf aufgefressen hatte.
Und der Junge sagte zu seiner Mutter: „Ich werde Shing’weng’we aufspüren und ihn töten!“ Er baute sich eine Schleuder aus einem Lederriemen und ging in die weite Welt hinaus. Und als er einen Tag durch den Busch gestreift war, entdeckte er eine Eidechse, die sich auf einem Findling sonnte. Er nahm seine Schleuder, legte einen Stein hinein, und schoss die Eidechse tot. Er kehrte mit dem toten Tier zu seiner Mutter zurück und rief: „Schau Mutter, ich habe den bösen Shing’weng’we getötet und meinen Vater gerächt!“ Aber seine Mutter lachte nur und sagte: „Nein, mein Sohn, du hast nur eine Eidechse getötet. Eidechsen fressen nur Moskitos und tun keinem Menschen etwas zuleide! Gib es auf! Du bist zu klein, Shing’weng’we zu töten. Er hat ein ganzes Dorf verschluckt!“
Der Junge war sehr traurig. Aber er schwor, dass er beim nächsten Mal Shing’weng’we töten würde. Er ging wieder in die weite Welt hinaus. Und als er zwei Tage durch den Busch gestreift war, entdeckte er einen Falken, der eine Maus in seinen Krallen hielt. Er nahm seine Schleuder, legte einen Stein hinein, und schoss den Falken tot. Er kehrte mit dem toten Vogel zu seiner Mutter zurück und rief: „Schau Mutter, ich habe den bösen Shing’weng’we getötet und meinen Vater gerächt!“ Aber seine Mutter lachte nur und sagte: „Nein, mein Sohn, du hast nur einen Falken getötet. Falken fressen nur Mäuse und Schlangen und tun keinem Menschen etwas zuleide! Gib es auf! Du bist zu klein, Shing’weng’we zu töten. Er hat ein ganzes Dorf verschluckt!“
Der Junge war wieder sehr traurig. Aber er schwor, dass er dieses Mal Shing’weng’we ganz bestimmt töten würde. Er ging ein weiteres Mal in die weite Welt hinaus. Und als er drei Tage durch den Busch gestreift war, stieg er auf einen hohen Berg. Als er hinunterblickte, sah er ein riesiges Ungeheuer, das Feuer spuckte und den Wald wie Brennholz um sich warf. Das war Shing’weng’we! „Ich will dich töten, Shing’weng’we, denn du hast meinen Vater und unser ganzes Dorf verschluckt!“
Als Shing’weng’we den kleinen Jungen sah, fing er an zu lachen. „Du kleiner Knirps!“, rief er. „Willst du mich zum Narren halten? Du kannst mich nicht töten. Komm näher, damit ich auch dich auffressen kann!“
Aber der kleine Junge nahm seine Schleuder und legte einen Stein hinein. Und er schoss auf Shing’weng’we, einen Stein nach dem anderen. Und dann kämpften beide, der kleine Junge Masala-kulangwa und das Ungeheuer Shing’weng’we, vier Tage lang! Am Abend des vierten Tages legte der Junge einen letzten Stein in seine Schleuder und schoss ihn mitten in die Stirn des Ungeheuers. Es fiel hin und schloss die Augen. „Du bist stärker, Masala-kulangwa!“, stöhnte es mit seinem letzten Atemzug. „ich erkenne dich als meinen Bezwinger an! Aber bevor du zu deiner Mutter zurückgehst, schneide meinen Bauch auf. Denn da ist dein Vater und da ist dein Dorf!“ Und das Ungeheuer starb.
Masala-kulangwa nahm sein Messer und schnitt den Bauch von Shing’weng’we auf. Und was passierte dann? Das ganze Dorf, alle Ahnen des Jungen, sprangen tanzend und singend aus dem Bauch des Ungeheuers heraus.
Sein Vater kam als letzter. Er nahm den Jungen auf die Schultern und nun sangen alle mit einer Stimme: „Shing’weng’we ist tot! Er hat keine Macht mehr über uns, denn Masala-kulangwa hat uns aus seinem Bauch befreit! Der Junge hat sich zum Mann gemacht und ist der Retter von uns allen! Was ist er nur für ein Mann! Er soll jetzt unser Häuptling, unser König sein! O Masala-kulangwa! Bezwinger des Ungeheuers Shing’weng’we, jetzt und für alle Zeiten!“