Hausmeister Mang erzählt

 

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2. Eine einfache Rechnung

Spätestens als ich in die Hechinger Straße einbog und mein Auto dann am Seiteneingang der Dr.-Georg-Hinzpeter-Schule abstellte, konnte ich nicht mehr übersehen, dass dieser Tag kein gewöhnlicher Tag war. Überall schaukelten bonbonfarbene Luftballons an ihren Strippen. Oberhalb des Schuleingangs hing ein handgemaltes Pappschild mit der Aufschrift „Willkommen zurück, Philipp!“ Und links neben der Tür hing ein Stück weißer Stoff, etwa so groß wie eine Tischdecke, und flatterte in der Frühlingsbrise.

Es wird offenbar gefeiert, sagte ich zu Hausmeister Mang, als ich mich zu ihm an seinem alten Schreibtisch setzte. Selbst er trug heute ausnahmsweise ein weißes Hemd und einen karierten Schlips unter seinem speckigen Blaumann.

„Sie meina wohl die Luftballons“, schnaufte Herr Mang. Er zog seine zerbeulte Thermosflasche aus der unteren Schublade und schenkte uns beiden ein. „Ja, heut gibt’s eine Gaudi. Der kloine Philipp kommt wieda.“

Wer ist denn Philipp?, fragte ich. Ein Schüler?

„Na glar, Bimpflingers Philipp, der Sohn vom alta Briefträger Bimpflinger. Der hat’s zu etwas gbracht im Leba.“

Philipp Bimpflinger..., sagte ich und nippte an dem gezuckerten Tee. Ich erinnere mich jetzt. Ist er nicht ein berühmter Mathematiker und Physiker? Und hat er nicht gerade sogar den Nobelpreis gewonnen?

„Med seina Arbeid über die Uhn-endlichkeit“, sagte Herr Mang und fuchtelte dabei mit den Händen, als ob er das ganze Universum damit einfangen könnte. „Er will herausgefunda haba, wie groß das Weltall ischt und dass wir es nie ganz vermessa gönna. Und heute gommt er, und der Herr Schuldirektor Dinckelacker will eine Bronzetafel enthülla. Ja, das ist ein schlauer Bursch, der kleine Philipp, aber desch hab i scho damals immer gwuasst.“

Der muss in der Tat sehr schlau sein. Nicht jeder gewinnt den Nobelpreis!

„Na freilich isch desch schwer. Aber manchmal braucht man nur eine gute Idee im Kopf und alles andere regelt sich von selbst. Wie eba bei Bimpflingers Philipp.“ Herr Mang lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und legte die Füße auf den verkramten Schreibtisch. „Desch war in meinem ersta Jahr hier an der Hinzpeter-Schule, aber i woiß nô ganz genau, was er für ein kloiner, mickriger Bursch war, damals in der fünfta Klassa. Imma seine Nase in einem Buch, imma ein Bloistift in den Fingern. Und so eine Brille vor de Auga! Er hätte scho damals der Schulbesta sein könna. Wenn ned der Oliver Aua dagwes wär.“

Oliver Auer?, fragte ich. Wer war denn das?

      „Wer war Oliver Aua?“, rief Herr Mang. „Heilandzagg, wenn der nicht der ärgste Saudackel in der ganza Schule war! Ein großer, schwerer Raufbold, der scho zwoimal sitzageblieba war, mit einer Eins in Sport und einer Sechs in allem andera. Er konnte zwoihundert oder mehr Liegestütza auf oinmal macha, det habe i med meine eigene Auga gseh. Aber er konnte kaum lesa und ned einmal zwoi mal zwoi zusammarechna. Er war ein richtiger Jesesseggl.“

     Ein... wie bitte?

     „Ein Depp war desch! Und für diesa Oliver gab’s nicht Lustigeres, als auf die Streba zu schimpfa. Vor allem den arma Bimpflingers Philipp nahm er aufs Korn. ‚Du med deiner Mathe!’, rief der imma und schlug ihm in der Pause die Bücha aus de Hända. ‚Liegastütza sollst du macha, und nicht zu knapp!’ Und schon muaßte der arme Philipp sich hinlega und seina Liegastütza verrichta. Grade der, mit seina Arma wie zwoi Streichhölzer! Zwoi Liegestütza konnte er noch, drei wenn’s hoch kam, aber mehr war ned drin.“

Das ist natürlich schlimm, bemerkte ich. Aber im Unterricht ging es ihm sicherlich besser. Die Lehrer haben bestimmt aufgepasst, dass ihm nichts passierte.

„Herrgeddle!“, rief Herr Mang und hielt mir seinen Zeigefinger unter der Nase. „Die Lehrer zitterta auch vor Oliver und seiner bösa Zunge! Aber im Sportunterricht war es bsonders schlimm. Der Balg hänselte den armen Philipp, med seina dünne Arme und X-Beine, so lange, bis alle andera auch lachten, sogar der Herr Sportlehrer Wilmenhausa, der Oliver eigentlich sonst nicht mochta. Und im Matheunterricht saß der Oliver nur in der hintera Reihe und bewarf den arma Burscha med Babiergugelchen, bis er gar ned mehr wagte, vor die Tafel zu treta. Desch war vielleicht a frechs Birschle, dieser Oliver!“

Das war bestimmt hart für einen angehenden Mathematiker, sagte ich.

„Bass mal uff!“ Herr Mang lehnte über die Schreibtischplatte, bis die Spitze seiner roten Knollnase fast meine eigene berührte. „Oliver hatte den armen Philipp soweit gbracht, dass er gar ned mehr zur Schule wollte. Eines Tages kam er zu mir ins Büro. ‚Bitte, Herr Mang’, sagte er, mit Träna im Gsicht, ‚wenn der Oliver Auer nicht gleich aufhört, mich wie ein Schoofseggl zu behandla, geb i die Schule uff!’ ‚Aber Philipp’, sag i zu ihm, ‚du willscht doch Mathematiker werda! Und wie kannst du desch ohne Schule?’ „Isch mir jetzt egal, ob i Briefträger werda wie mein Papa, Herr Mang’, sagt Bimpflingers Philipp. ‚I kann’s ned eina Tag länger aushalta!’

Was nu? Dann denk i einen Augenblick nach und sag zu ihm: ‚Philipp, du kannst ihn ned med seina eigna Waffa schlaga, sondern nur med deina. Gib ihm einfach eine Rechenuffgabe uff! Ebbes, wo er länger braucht, sich a bissle anstrenga muaß. Dann lässt er di ja erst môl in Ruhe!’ ‚Desch geht ned', sagt Philipp. ‚Der Oliver kann ned einmal zwoi mal zwoi zusammarechna, und er würde esch ned emmal probiera!’ ‚Dann gibst du ihm eine Uffgabe uff, die er einfach ausrechna muaß, sag i ihm.“

Herr Mang trank seine Tasse aus und schenkte uns beiden noch mal ein. „Da fing Bimpflingers Philipp an zu denka. Er kräuselte die Stirn wie ein Wirsingblatt und kaute an den Fingerkuppa. Dann bat er mich um ein Schulheft und nahm seinen Bleistift, und nun fing er an zu rechna. Und nach nur ein paar Minuta hat er so ein Lächeln im Gesicht, wie der Schneemann beim letzta Winterfest in Oberanderdinga.“

Das muss eine ganz besondere Aufgabe gewesen sein, sagte ich.

„Herrgottskreiznognaglt! Du wirsch domm gugga! Am nächsta Tag im Sportunterricht wollte der Oliver Bimpflingers Philipp scho wieda zwinga, Liegestütza zu macha. Aber der Philipp legt sich diesa Mal nicht hin sondern sagt ganz frech: ‚I glaub ned, dass du selber so viele Liegestütza übahaupt macha kannsch’ ‚Nanu?’, sagt Oliver. ‚I kann zwoihundert macha, oder gar mehr. Desch woiß jeder hier an der Schule. Soll i’s beweisa?’ 'Du kansch auf koinen Fall soviele Liegestütza macha, wie i hochrechna kann.' 'Doch, desch kann i!, sagt Oliver. ‚I geb dir eine Uffgabe uff’, sagt Philipp. ‚Und dann kann jeder an der Schule seha, wie stark du wirklich bischt. Du machst heute einen Liegestütz, dann morga zwoi und übermorga vier. Dann musst du desch immer jeda Tag verdoppla, den ganza Monat lang. Wenn du das durchhalta kannsch, dann werden wir alle wissa, woraus du gmacht bisch. Und, i sag dir Oliver, wenn du all desch gmacht hast, kannst du med mir anstella, was du willsch.’“

Das war in der Tat eine einfache Rechnung, sagte ich.

Herr Mang lehnte sich zurück. „Desch dachte der Oliver Aua auch! Und nun musste er es macha, denn die anderen Kinder und sogar der Herr Wilmenhausa standa nun hinter Philipp, der plötzlich so frech gworda war. ‚Eine Sacha noch’, sagte Bimpflingers Philipp. ‚Du musst immer alle Liegestütza für einen Tag fertigmacha, bevor du med deinem Pensum für de nächsta Tag anfängst. Und keine Pausen! Das musst du nun vor alla hier Versammelta schwöra.’ Der Oliver lachte nur. ‚Desch kann i ja ruhig schwöra, denn ich kann zwoihundert auf einmal, und sogar mehr! Und wenn i fertig bin, dann wirsch du was erleba!’

Und so ging’s los“, sagte Herr Mang weiter und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Tasse. „Am ersten Tag, glei dort in der Sporthalle, machte Oliver einen einziga Liegestütz. Am zwoiten Tag machte er zwoi, am darauffolgenda vier und so ging’s weiter. Nach einer ganza Wocha brauchte er nur vierundsechzig Liegestütza zu macha und er lachte nur noch über den Philipp. ‚Nur noch drei Wocha!’, rief er, ‚und du wirsch ebbes erleba!’ Und die anderen Kinder hielta ebafalls nicht mehr viel von Bimpflingers Philipp und seina Rechenkünsta. Ned einmal der Herr Sportlehrer Wilmenhausa.

Aber zwoi Tage später musste Oliver scho zwoihundertsechsundfünfzig Liegestütza macha, und hinterher sah er ned mehr so frisch aus, sag i Ihna. Am nächsta Tag waren es fünfhundertzwölf und dafür brauchte er scho drei ganza Stunda. Und einen Tag druff...“

Lassen Sie mich mal, sagte ich und rechnete schnell mit den Fingern. Mein Gott! Tausendvierundzwanzig Liegestütze! Das schafft kein Mensch!

„Das dachte Oliver inzwischa auch. Nach den ersta sechshundert wollte er sich ausruha, aber Herr Wilmenhausa und alle Kinder sagten, ‚Nôi, nun musst du es durchzieha!’ Denn schließlich hat er’s gschwora! Dafür brauchte er einen ganzen Tag. Am nächsta morgen musste er für seine zwoitausendachtundvierzig ganz früh uffsteha, und ich steckte Oliver in den Geräteschuppa, damit er nicht imma im Wege war. Und schon hielta nicht nur die Kinder sondern auch der Herr Sportlehrer Wilmenhausa viel mehr von Bimpflingers Philipp und seina Mathekünste.

Von nun an sah man nur noch wenig von Oliver. Und desch war alla Kindern Recht, auch dem Herrn Sportlehrer Wilmahausa. Aber Bimpflingers Philipp blühte uff wie eine Rose! Bald wurd er der Schulbeste und eine richtige Kanone in Mathe. Mit sechszehn ging er auf die Uni in Stuagard und wurde dann Professor in Müncha. Und nun der Nobelpreis! Schauen Sie, man kann es sehr weit bringa, wenn man erst mal eine gute Idee im Kopf hat.“

Wie viele Liegestütze musste Oliver insgesamt verrichten?, fragte ich.

„Mal gugga.“ Herr Mang wühlte in seiner Schublade und zog dann ein altes Schulheft hervor. „Nach fünfzehn Taga war sein Pensum sechszehntausenddreihundertvierundachtzig. Nach zwanzig Taga waren es genau fünfhundertvierundzwanzigtausendzwoihundertachtundachtzig.“ Er blätterte weiter. „Und am Monatsende waren es... ja, hier hab i’s: am letzten Oktobertag sollte er eine Milliarde, dreiundsiebzigmillionen, siebenhunderteinundvierzigtausendachthundertvierundzwanzig Liegestütza macha. Na also, da hat der Oliver Auer endlich glernt, dass das Rechna zu ebbes gut ist! Denn er hätt glei wissa könna, dass dô nex Gscheids dabei raus kommd.“

Bald darauf trank ich den Rest meines Tees aus und verabschiedete mich von Herrn Mang. Gerade als ich über den Schulhof lief, hielt ein blauer BMW vor der Schule an. Ein schlanker Herr um die fünfzig, mit leicht angegrauten Haaren und in einem elegant geschnittenen Anzug gekleidet, stieg aus und trat lächelnd auf die Schule zu. Das ist er also, dachte ich, der kleine Philipp Bimpflinger. Der hat nun wirklich etwas aus sich gemacht!

Um an mein Auto zu gelangen, musste ich aber an dem Geräteschuppen vorbei. Nun, was hörte ich? Ich ging näher heran und legte mein Ohr an die Tür. Tief drinnen rumorte es. Es war ein Grunzen und Keuchen, wie von einem alten, müden Tier, das sich gerade gewaltig anstrengt. Das konnte aber nicht sein, denn ich wusste, dass Herr Mang keine Schweine hielt. Was dann? Ich schüttelte nur den Kopf und lief noch schneller zu meinem Auto.