Die Korongo
Ein ostafrikanisches Märchen
von A. Wallis Lloyd
Hinweis des Autors: Tiermärchen haben eine jahrhundertealte Tradition in Afrika. Vor allem der Storch besitzt eine tiefe Bedeutung sowohl für traditionelle afrikanische Kulturen als auch in der muslimischen und der christlichen Religion. Außerdem stellt er eine Art lebende Luftbrücke zwischen Europa und Afrika dar, ein Thema, das ich in meinem Roman "Nachtflug zum Kilimanjaro" beleuchtet habe. In dieser Kunstfabel erzähle ich, wie der Storch seine jetzige Gestalt erhielt. Dabei heißt Korongo auf Kiswahili Storch, Mungu heißt Gott.
VOR LANGER ZEIT, als die Erde noch jung war, lebte die Korongo auf dem Grasland. Mungu hatte sie dorthin bestellt, um über alle anderen Tiere in Frieden zu herrschen. Sie war der schönste aller Vögel, mit Federn so weiß wie der Schnee, der auf dem Kilimanjaro liegt, und silbernen Beinen und einem kurzen Schnabel aus reinem Gold. Sie baute ihr Nest auf der Erde und ernährte sich von Hirse und wilden Honig.
Aber eines Tages kam das Krokodil angekrochen. Es wollte auch die Hirse und den Honig essen und sagte: ‚Dieses Grasland ist mein Futterplatz und du darfst nicht bleiben!‘ Und es schlich in ihr Nest und fraß ihre Kinder.
Aber Mungu hatte Erbarmen mit der Korongo und schenkte ihr starke Flügel, damit sie über die Berge und das Meer fliegen konnte. Die Korongo flog in ein fernes Land, um ihr Nest zu bauen und Eier zu legen und ihre Kinder zu erziehen. Aber als ihre Kinder flügge waren, sagte sie: ‚Wenn Mungu mir beisteht, wird mich das Krokodil nicht von meinem Futterplatz vertreiben!‘ Und sie flog mit ihren Kindern zum Grasland zurück. Das Krokodil sah sie und rief:
‚Ein Fluch über dich, Korongo,
Du Fremde im Land!
Du wirst hier nichts finden Denn dies ist jetzt mein Futterplatz!‘
Und das Krokodil raste über das Grasland und verschlang alle Hirse und allen wilden Honig. Aber die Korongo sagte: ‚Wenn Mungu mir beisteht, werde ich anderes Futter finden.‘ Und ihr Schnabel wuchs und wuchs. Sie steckte ihn in die Erde und fand Schlangen und Heuschrecken, die sie mit ihren Kindern fraß, bevor sie wieder wegflogen.
Im nächsten Jahr flog sie mit ihren Kindern zurück aufs Grasland. Das Krokodil sah sie und rief:
‚Ein Fluch über dich, Korongo,
Du Fremde im Land!
Du wirst hier nichts finden Denn dies ist jetzt mein Futterplatz!‘
Und das Krokodil warf brennende Fackeln auf das Grasland und steckte alles in Brand. Aber die Korongo sagte nur: ‚Wenn Mungu mir beisteht, werde ich mein Futter im Feuer finden.‘ Und sie schritt in die Flammen hinein. Das Feuer verbrannte ihren Schnabel und ihre Beine, bis sie rot glühten, aber sie ging immer weiter und suchte Nahrung, bis sie und ihre Kinder satt waren.
Im nächsten Jahr flog sie mit ihren Kindern zurück aufs Grasland. Das Krokodil sah sie und rief:
‚Ein Fluch über dich, Korongo,
Du Fremde im Land!
Du wirst hier nichts finden Denn dies ist jetzt mein Futterplatz!‘
Und das Krokodil rannte über das Grasland und trieb alle Schlangen und Heuschrecken in den Sumpf. Aber die Korongo sagte: ‚Wenn mir Mungu beisteht, werde ich mein Futter im Sumpf finden.‘ Und sie schritt in den Sumpf hinein. Das Krokodil bewarf sie mit Schlamm, bis ihr wunderschönes weißes Gefieder schwarz befleckt war, aber sie ging immer weiter und fraß, bis sie und ihre Kinder satt waren.
Im nächsten Jahr flog sie mit ihren Kindern zurück aufs Grasland. Das Krokodil sah sie und rief:
‚Ein Fluch über dich, Korongo,
Du Fremde im Land!
Du wirst hier nichts finden Denn dies ist jetzt mein Futterplatz!‘
Und das Krokodil warf Staub in den Himmel, bis die ganze Erde schwarz wie die Nacht wurde, sodass keiner mehr das Grasland sehen konnte. Dann schoss es feurige Pfeile in den Himmel, um die Korongo in die Irre zu führen. Aber die Korongo sagte: ‚Wenn Mungu mir beisteht, werde ich das Grasland im Dunkeln wiederfinden.‘
Und Mungu war bewegt von dem Mut der Korongo. Er schenkte ihr einen eigenen Stern, dem sie durch die dunkle Nacht folgen konnte. Und sie fand den Weg zum Grasland zurück und fraß, bis sie und ihre Kinder satt waren.
Als das Krokodil begriff, dass die Korongo wegen ihrer Standhaftigkeit stärker war, kroch es demütig in den Fluss, wo es bis heute lebt, und sagte dabei: ‚Mungu ist barmherzig und steht immer den Tapferen bei!’